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Mica treibt Kinder in die Minen Madagaskars

Nahaufnahme einer Probe des Biotit-Glimmers, basale Spaltung zeigendFür die wertvollen Glimmer-Platten aus verschiedenen Mineralien wachsen viele Kinder in Madagaskar im Minenbetrieb auf. |  Bild: Nahaufnahme des Biotit-Glimmers © Frenchmen77 [Royalty Free]  - dreamstime.comNahaufnahme einer Probe des Biotit-Glimmers, basale Spaltung zeigend

Für die wertvollen Glimmer-Platten aus verschiedenen Mineralien wachsen viele Kinder in Madagaskar im Minenbetrieb auf. | Bild: Nahaufnahme des Biotit-Glimmers © Frenchmen77 [Royalty Free] - dreamstime.com

Die Insel Madagaskar vor der Ostküste des afrikanischen Kontinents erlangte in jüngerer Vergangenheit vor allem durch den gleichnamigen Animationsfilm, der die tierischen Hauptfiguren auf ihrer abenteuerlichen Reise in das tropische Paradies begleitet, ein beträchtliches Maß an Aufmerksamkeit. Während der Film paradoxerweise eine spaßige und humorvolle Unterhaltung vor allem für ein junges Publikum bietet, könnte die Realität für die Kinder vor Ort kaum unterschiedlicher aussehen. Erst kürzlich wurden auf dem für seine einzigartige Natur- und Tierwelt bekannten Inselstaat im indischen Ozean vermehrt Nachweise umfangreicher Netzwerke von Kinderarbeit dargelegt. So wies unter anderem das Bureau of International Labor Affairs (ILAB) basierend auf aktuellen Schätzungen auf momentan mindestens 11.000, an verschiedenen Arbeitsschritten aktiv beteiligten, Kinderarbeiter hin, die überwiegend in den ansässigen Minen der lokalen Mica-Vorkommen, im deutschen zumeist unter dem Begriff Glimmer verwendet, gezählt wurden. 1) 2)

Der Begriff “Mica” fungiert dabei als eine Art Sammelbegriff für eine exklusive Gruppe von Mineralen, die sich in ihrer atomaren Struktur insoweit ähneln, dass sie praktisch identische Eigenschaften aufweisen. Entscheidend ist dabei die relativ schwache Bindung zwischen den separaten Schichten innerhalb der Struktur, die das Material für gewisse Branchen außerordentlich interessant macht. Neben der Attraktivität durch die problemlose Spaltbarkeit des rohen Mica, gehört unter anderem das bereits im Namen inbegriffene schwache glimmern, welches besonders in der Kosmetikbranche sowie auch für den Lack von beispielsweise Autos besonders gefragt ist, zu den Hauptgründen für die enorme Beliebtheit in einigen Geschäftszweigen. Des Weiteren wird das Mica seit geraumer Zeit aufgrund seiner geringen elektrischen Leitfähigkeit und hohen Hitzeresistenz auch verstärkt in elektronischen Gerätschaften wie beispielsweise Handys, Toastern, Föhns, Festplatten, Batterien oder LED-Lampen implementiert. Durch die vielseitige Verwendung in alltäglichen Gerätschaften und Konsumgütern gerät der Einzelne vermutlich mit dementsprechend hoher Wahrscheinlichkeit in regelmäßigen Kontakt mit diversen Endprodukten, welche Mica enthalten. Dass diese dadurch letztlich einen signifikanten Anteil an ausbeuterischer Kinderarbeit enthalten, ist allerdings wohl den wenigsten bewusst. 3) 4)

Grundsätzlich sind Kinder in beinahe allen Phasen des Arbeitsprozesses involviert, wobei sie zumeist Arbeit entsprechend ihren körperlichen Voraussetzungen übernehmen. Konkret bedeutet das, dass die jüngeren – beginnend ab vier bis fünf Jahren –  mit dem Sammeln und Tragen des Rohmaterials beginnen und mit fortlaufender Zeit immer mehr in die Arbeit der erwachsenen Arbeiter eingebunden werden. Dazu gehört unter anderem die prekäre Arbeit des Grabens von Minenschächten, wobei ausschließlich händisch oder unter Einsatz rudimentärer Werkzeuge wie Brecheisen oder Hammer gearbeitet werden darf, um die wertvollen Mica-Platten unbeschädigt zu extrahieren. Da viele der kleinen Bergbauten außerhalb staatlicher Kontrolle und damit zumeist illegal operieren, gibt es höchstens sporadische Inspektionen – offiziell geltende Regularien werden daher in den seltensten Fällen tatsächlich eingehalten. Neben der omnipräsenten Einsturzgefahr und der schlechten Sichtverhältnisse in den unprofessionellen Schächten sind die Kinderarbeiter durch das permanente Einatmen des Staubs mit langfristigen Atemwegserkrankungen wie Asthma oder der “black lung disease” (Staublungenerkrankung) konfrontiert. Auch die Kinder, die als Tragkräfte oder in den Weiterverarbeitungsstationen beim Sortieren schuften, leiden unter Dehydrierung aufgrund der heißen, stickigen Luft und der schweren, für sie völlig ungeeigneten Arbeit. Eine gesundheitliche Versicherung oder soziale Vorsorge besitzen sie dabei nicht. 3) 4) 5)

Dabei ist Kinderarbeit in Madagaskar seit der Ratifizierung diverser international anerkannter Konventionen zur Bekämpfung minderjähriger Arbeitskräfte offiziell verboten. Dennoch finden sich viele Kinder aufgrund der strukturellen Armut in weiten Teilen des Landes genötigt, bereits seit frühester Kindheit arbeiten zu gehen, um sich selbst und ihre Familien zu ernähren. Sie opfern ihre Chancen auf schulische Bildung für Kopfverletzungen, Schnittwunden und eine Bezahlung, die in den meisten Fällen kaum ausreicht, um regelmäßige Mahlzeiten zu finanzieren. So beträgt der Lohn für einen Kilogramm Mica durchschnittlich gerade einmal umgerechnet vier Cent (0,04 Euro), eine Menge für die die Kinder noch dazu normalerweise deutlich länger arbeiten müssen als ihre erwachsenen Kollegen. Im Vergleich: Auf dem Weltmarkt liegt der Preis für einen Kilogramm des Rohstoffs bei circa 1000 US-Dollar. In ihrer Plackerei für einen Bruchteil dieses Wohlstands sind dabei vor allem junge Mädchen häufig sexueller Ausbeutung hilflos ausgeliefert. Regelmäßig wenden sie sich gar vollends der deutlich profitableren Prostitution zu. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen verdeutlichen diese Entwicklung. Die südlichen Provinzen Androy, Anosy und Ihorombe, in denen der größte Teil des Mica- Abbaus stattfindet, schnitt im landesweiten Vergleich hinsichtlich fast aller signifikanter Indikatoren wie etwa Bildung, Ernährung oder Kinderehen deutlich schlechter ab als der nationale Durchschnitt . Trotz der gefährlichen Arbeitsbedingungen und miserablen Bezahlung bleiben viele Familien vom verlockenden Glanz des Mica abhängig, denn abseits dessen existieren für sie kaum Wege, sich einer gewissen finanziellen Stabilität anzunähern. Daher schicken viele Eltern ihre Kinder entweder fort, um in einer der vielen Minen am Südzipfel der Insel zu arbeiten, oder sie binden sie unmittelbar in den familiären Arbeitsprozess bei der Erwirtschaftung des Glimmer ein. 6) 5) 7) 8)

Konkrete und realistische Lösungsansätze vorzulegen, gestaltet sich aufgrund der tiefgreifenden historischen Verankerung der vorliegenden Probleme überwiegend als kompliziertes Unterfangen. Denn die Hauptursache der gegenwärtigen Situation ruht in den spätkolonialistischen Bestrebungen der europäischen Großmächte. Als das französische Kolonialreich das bis dato weitestgehend ungestörte Madagaskar gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Selbstverständnis einer empfundenen moralischen Überlegenheit annektierte und anschließend zügig ein effektives Ausbeutungsregime installierte, etablierten sie neben den üblichen Plantagengütern rasch einen florierenden Handel mit den entdeckten Glimmer-Vorkommen und anderen Bodenschätzen. Noch heute, da das repressive Regime der Kolonialherrschaft seit über einem halbe Jahrhundert Geschichte ist, ist ihr Vermächtnis wie in vielen anderen Kolonien auch in Madagaskar weiterhin kaum zu übersehen. Und das ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits ist der Inselstaat seit seiner formellen Unabhängigkeit 1960 politisch zerrüttet und wirtschaftlich gebeutelt. Er schneidet bei den meisten aussagekräftigen Indizes hinsichtlich politischer Stabilität und wirtschaftlichem Wohlstand bestenfalls mittelprächtig ab. So wird Madagaskar unter anderem eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Staatszerfalls sowie ein von Korruption weitreichend durchwirktes System attestiert. Auch bei Wohlstandsindikatoren, etwa dem von den Vereinten Nationen erhobenen Index der menschlichen Entwicklung, rangiert der Staat im hinteren Bereich. Andererseits stellt das Mica einen verlockenden Ausweg aus dieser misslichen Lage dar. Die grundlegenden Strukturen und Mechanismen sind seit der Kolonialzeit erprobt, die Nachfrage nach dem vielseitigen Material wird gemäß einiger Prognosen auf absehbare Zeit weiterhin kontinuierlich ansteigen. Diese Aussicht auf langfristige, lukrative Handelsbeziehungen wird die Verantwortlichen auf staatlicher Ebene daher vermutlich weiterhin dazu bewegen, bei Kinderarbeit gezielt wegzuschauen, anstatt diese systematische Ausbeutung mit dem erforderlichen Engagement zu bekämpfen. 9) 10) 11) 12)

Das Resultat dieses Dilemmas ist die gnadenlose Ausbeutung zahlreicher Kinder, die täglich unter dem Existenzminimum leben, damit der Endverbraucher tausende Kilometer entfernt einem komfortablen Lebensstil frönen kann. Für den Endverbraucher ist es allerdings schwierig zu identifizieren, ob ein bestimmtes Produkt durch Kinderarbeit gewonnenes Mica enthält oder nicht. Nichtsdestotrotz gibt es einige Möglichkeiten zu handeln, etwa indem gezielt darauf geachtet welche Unternehmen undurchsichtige Lieferketten und fragwürdige Lieferanten haben. Bei der Orientierung hilft dabei unter anderem die Firmenliste des sektorübergreifenden internationalen Zusammenschlusses RMI (Responsible-Mica-Initiative), mit welchem sich die vertretenen Unternehmen darauf verpflichtet haben, ab 2023 ausschließlich kinderarbeitsfreies Mica zu beziehen. Eine ebenso interessante Alternative bieten mittlerweile einige Unternehmen, die für den gewohnten Glanz ihrer Produkte auf künstlich erzeugtes Mica zurückgreifen, um sich entschieden von den rücksichtslosen Praktiken der Zulieferer zu distanzieren. Ganz grundsätzlich auf Produkte mit Mica zu verzichten bleibt jedoch zweifellos die verlässlichste Option, ansonsten bietet sich zusätzlich an über die dafür vorgesehenen Kanäle an den entsprechenden Hersteller heranzutreten um sich hartnäckig nach den Details der Herkunft und der Produktionskette zu erkundigen. 13)

  1. dol.gov: US DEPARTMENT OF LABOR AWARDS $4.5M GRANT TO COMBAT CHILD LABOR IN MICA MINING IN MADAGASCAR; Artikel vom 16.02.2022
  2. dol.gov: List of Good produced by Child Labor or Fored Labor; Stand: 10.03.2022
  3. somo.nl: Global Mica mining and the impact on children´s rights; Artikel von März 2018
  4. somo.nl: Global Mica mining and the impact on children´s rights executive summary; Artikel von März 2018
  5. somo.nl: Child Labour in Madagascar´s Mica Sector; Artikel von November 2019
  6. dol.gov: Child Labor and Forced Labor Reports Madagascar; Stand: 10.03.2022
  7. stopchildlabor.org: Ending Child Labor in Mica Mines in India and Madagascar; Artikel vom 12.07.2021
  8. terredeshommes.org: Children make up half of all workers in malagasy mica mines, terre des hommes research reveals; Artikel vom 06.01.2020
  9. fragilestatesindex.org: Fragile States Index 2020; Stand: 10.03.2022
  10. transparency.de: CPI 2020: Tabellarische Rangliste; Stand: 10.03.2022
  11. hdr.undp.org: Human Development Indicators Madagascar; Stand: 10.03.2022
  12. globenewswire.com: Global Mica Market Will Reach USD 727 Million by 2025: Zion Market Research; Artikel vom 25.07.2019
  13. responsible-mica-initiative.com; Stand: 10.03.2022



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