Ein kleiner Junge steht in den Trümmern seiner einstigen Siedlung. Vom Haus, in dem er bis vor wenigen Stunden noch wohnte, blieb nur noch Schutt und Geröll. Von unzähligen Polizisten beschützt, hatte eine Baggerkolonne kurzerhand das gesamte Viertel plattgemacht. Die verzweifelten Proteste der Bewohner – vergebens. „Seht her, ich baue mein Haus jetzt genau hier wieder auf!“, schreit ein aufgelöster Familienvater, nimmt zwei Bretter und beginnt zu hämmern. Inmitten dieser Trümmerlandschaft schnappt sich der Junge einen herumliegenden Autoreifen, stößt ihn die Straße hinab und beobachtet, wie dieser schließlich an einen Pfeiler prallt und liegen bleibt. Ein erschütterndes „Spiel“, nachdem er plötzlich seinem Zuhause, seiner bekannten Umgebung, seinem Hab und Gut beraubt wurde. Er steht im Nichts, ohne etwas, ohne Obdach. Ohne Aussicht auf eine Bleibe, ohne Perspektive. Denn dort, wo er bis eben wohnte, soll ein neues, modernes Viertel errichtet werden. Mit großen Wohnblöcken, die so teuer sind, dass niemand der alteingesessenen Bewohner sich dort Wohnraum leisten kann. Diese ins Mark fahrende Szene ist Teil der Dokumentation „Ekümonopolis – Stadt ohne Grenzen“ und beileibe nicht die einzig derart Erdrückende.
Der Filmtitel leitet sich von dem durch den griechischen Städteplaner Constantinos Doxiadis geschaffenen Begriff „Ecumenpolis“ ab: Dieser hatte 1967 die Vision, dass sich die Städte angesichts der Urbanisierung und des Bevölkerungswachstums so weit ausbreiten würden, dass die Welt irgendwann aus einer einzigen, globalen Megacity bestehen würde. 1)
Am Beispiel Instanbuls macht der türkische Regisseur Imre Azem in seinem Film deutlich, welche fatalen Konsequenzen der Weg dorthin mit sich bringt, was es für Mensch und Natur bedeutet, dass die Stadtplanung seit Beginn der Achtzigerjahre ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen, die Bewohner selbst sowie Einwände von Wissenschaftlern mit nur einem Ziel agiert: zu wachsen. 2) 1) 3) 1980 wurde durch die Stadtplanung selbst festgestellt, dass die topographische und geographische Lage Istanbuls, die Meerenge zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer, 4) maximal fünf Millionen Einwohner beherbergen könnte. Heute sind es aber 15 Millionen, in 13 Jahren sollen es gar 23 Millionen sein. 4) 1)
Aufrüttelnd verdeutlicht der Film, dass neben den Bevölkerungsgrenzen auch die ökonomischen und ökologischen Grenzen längst überschritten sind 5) und auch die Jüngsten von den brutalen Konsequenzen nicht ausgenommen bleiben: Denn für viele der eingangs genannten von Vertreibung betroffenen Familien bedeutet der städtische Wachstumswahn finanzielle Not: Neue Unterkünfte bedeuten deutlich höhere Kosten für die ansässigen Familien. In vielen Fällen reicht der Verdienst der Väter, der falls sie überhaupt Arbeit haben oft nur den Mindestlohn darstellt, nicht aus. Einer schildert im Film die ausweglose Situation seiner Familie: Dass das Geld nicht nur nicht mehr ausreicht, seine kleinen Söhne zur Schule zu schicken, sondern dass er darüber hinaus gezwungen war, sie gleich zum Arbeiten zu schicken. Um sicherzustellen, dass die Familie überhaupt ein Dach über dem Kopf hat. Dieses Schicksal verdeutlicht, dass die öffentliche Stadtplanung nicht nur Kinderarbeit zulässt, sondern viel schlimmer: sie selbst erzeugt.
Hier geht’s zum ausführlichen, elfminütigen Trailer des Films.
Fußnoten (Hinweise, Quellen, Links)
- Ecumenopolis: Synopsys ↩↩↩
- Neuordnungen.info: Veranstaltungshinweis: Ekümenopolis – Stadt ohne Grenzen ↩
- Blackboxproject.de: Vol. 8: ¡Taksim Tactics! mit Imre Azem – nicht mehr verfügbar ↩
- Wikipedia: Instanbul ↩↩
- Crossroads Festival: Ekümenopolis: Stadt ohne Grenzen Link nicht verfügbar 10.06.15 ↩