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Alles für den Sieg: Wie Japans Kindersportler misshandelt werden

aktiv gegen kinderarbeit |  Bild:  © earthlink e.v.

aktiv gegen kinderarbeit | Bild: © earthlink e.v.

Sport spielt eine wichtige Rolle im Alltag vieler Kinder und Jugendlicher weltweit. Entweder wird er als spaßbringendes Hobby in der Freizeit mit Freunden ausgeübt, oder Kinder und Jugendliche trainieren freiwillig auf einem beinahe professionellen Level, um an Wettbewerben teilzunehmen. So sollte es auch sein. Sport ist eine gute Ausgleichsmöglichkeit zur Schule und begünstigt die Entwicklung junger Menschen. So stärkt er nicht nur die körperliche und geistige Gesundheit, sondern fördert auch soziale Kompetenzen, wie Teamfähigkeit oder motorische Fähigkeiten. Die Kinder lernen auf spielerische Weise Disziplin, Toleranz und Respekt für andere. Doch nicht alle Kinder betreiben sportliche Aktivitäten freiwillig oder aus Freude. Weltweit werden Kinder zu einer exzessiven Sportausübung gedrängt, überbelastet und sind Misshandlungen und Missbrauch ausgesetzt. In diesen Fällen wird Sport schnell zum Gegenteil: einem Risiko für das physische und psychische Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen. Die Anwendung körperlicher, verbaler oder sexueller Gewalt, um eine Leistungssteigerung der Kinder zu erzwingen, ist in vielen Ländern keine Seltenheit, sondern bittere Realität. Zum Teil wird auch auf Medikamente, Dopingmittel und Hormonspritzen zurückgegriffen. Besonders Länder wie China, Südkorea und Japan sind bekannt für umstrittene Unterrichtsmethoden. Anstatt die Kinder in ihrer Entwicklung positiv zu unterstützen, schadet der Sport der mentalen und körperlichen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Der allgegenwärtige Druck, immer besser zu werden, hat in vielen Fällen dramatische Folgen. 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14)

„Ich wurde so oft geschlagen, dass ich es nicht mehr zählen kann“

Am Montag, den 20. Juli 2020, hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch den Bericht I Was Hit So Many Times I Can’t Count: Abuse of Child Athletes in Japanveröffentlicht, der ein alarmierendes Ausmaß an Gewaltanwendung gegen Kindersportler und jugendliche Athleten in Japan zu Tage fördert. Demnach sind diese in unzähligen Fällen sowohl physischer als auch verbaler und sexueller Gewalt ausgeliefert. 15) 3)

Kinder Sumo-Ringen
Schon Kinder werden in Japan zu Sumo-Ringern ausgebildet. Dafür müssen sie oft extrem an Gewicht zulegen. | Bild: © Babak Fakhamzadeh [CC BY-NC 2.0] – Flickr
Viele der Befragten waren bei der Ausübung ihres Sportes geohrfeigt, getreten, zu Boden oder anderweitig geschlagen worden, in vielen Fällen auch mit Gegenständen, wie beispielsweise einem Schläger, Bambusstock oder einer Trillerpfeife. Andere schilderten, dass sie gezwungen wurden, große Mengen an Essen zu sich zu nehmen, oder dass ihnen Nahrungsmittel und Wasser vorenthalten wurden. Des Weiteren wurden die Kinder und Jugendlichen häufig bis weit über ihre Belastungsgrenze hinaus gefordert. Unter Schmerzen wurden sie in vielen Fällen gezwungen, das Training auch bei vorhandenen Verletzungen fortzuführen. Anstatt diese auszukurieren, wurden laut der Befragten täglich Schmerzmittel eingenommen, um weiter am Training teilnehmen zu können. Darauf folgten meist eine drastische Verschlechterung und dauerhafte Schädigung der körperlichen Gesundheit. Häufig wurde auch von einer Bestrafung berichtet, bei der die Betroffenen bis zur vollständigen Erschöpfung oder bis zum Hitzschlag rennen mussten. Weitere Bestrafungen für unzureichende sportliche Leistungen umfassten Methoden, bei denen Sportler gewürgt oder lange Zeit unter Wasser gedrückt wurden, sodass sie keine Luft mehr bekamen. Für kleinere Fehler, wie das Zuspätkommen, wurden manchen Befragten die Haare abgeschnitten oder abrasiert. Weitverbreitet ist laut Human Rights Watch zudem auch die Anwendung psychischer Grausamkeit, welche die Demütigung und Erniedrigung vor dem gesamten Team miteinschließt. 15) 3)

Betroffene leiden oft bis ins Erwachsenenalter an Folgen der Misshandlungen

Das Dokument beschreibt darüber hinaus, wie die Betroffenen auch Jahre später noch mit den Auswirkungen von Misshandlung und Missbrauch zu kämpfen haben. Depressionen, Angststörungen, Schlaf- und Essstörungen, geringes Selbstbewusstsein, gesundheitliche und neurologische Schäden, körperliche Verletzungen, Aggressionsprobleme und lebenslange Traumata sind häufig die Folgen, in einigen Fällen auch Selbstmord oder der Tod. In Interviews und einer Online-Studie wurde von Betroffenen aus mindestens 50 verschiedenen Sportarten über solche Erfahrungen berichtet. Ob im Rahmen des Schulsports oder der landesweiten Sportverbände, ob aus den Reihen der Elite-Athleten oder des japanischen Olympiateams: Kindersportler und jugendliche Athleten aus allen möglichen Leistungsstufen gaben an, Opfer von Misshandlung und Missbrauch durch ihre Trainer, Mannschaftsärzte, Physiotherapeuten oder ältere Teammitglieder geworden zu sein. Das Ausmaß individueller Fallbeispiele ist erschreckend und zutiefst beunruhigend. 2004 wurde ein Vorfall dokumentiert, bei dem ein 15-jähriger Junge von seinem Trainer mehrfach bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt worden war. Innere Blutungen im Gehirn waren die Konsequenz und verursachten eine lebenslange kognitive Schädigung und Beeinträchtigung. Nach Angaben von Human Rights Watch gibt es im Zusammenhang mit Judo als Schulsport 121 dokumentierte Todesfälle von Kindern und Jugendlichen, die sich zwischen 1983 und 2016 ereignet haben. Ein trauriger und unangetasteter Rekord unter den entwickelten Ländern. Allgemein wird über Misshandlung und Missbrauch von Kindersportlern und jugendlichen Athleten zu wenig berichtet. Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch. 15) 16)

Körperliche Bestrafung wird in Japan noch immer toleriert und normalisiert

Rhythmische Sportgymnastik Japan
Mitglieder des japanischen Teams treten in der Disziplin Rhythmische Sportgymnastik bei den Olympischen Jugendspielen 2010 an. | Bild: © Singapore 2010 Youth Olympic Games [CC BY-NC 2.0] – Flickr
Entgegen früherer Einschätzungen, dass körperliche Gewalt in der japanischen Sportwelt im Rückgang sei, zeigt der Bericht, dass derartige Methoden in Japan noch immer geläufig sind. Wie fest körperliche Gewaltanwendungen zur Leistungssteigerung in der japanischen Sportkultur verankert sind, verdeutlichen die Aussagen der Befragten. Viele berichten, dass sie selbst die Züchtigungen oft nicht als bösartig, sondern zunächst als liebevollen Leistungsansporn oder als normal empfunden haben. Körperliche Bestrafung und Überbelastung sind lange verharmlost worden und werden nach wie vor in der japanischen Gesellschaft normalisiert. Das sogenannte taibatsu wird dabei als legitime Disziplinierungsmaßnahme zur Leistungssteigerung gesehen. Eine 2017 durchgeführte Studie der Organisation Save the Children, zeigte, dass ca. 60 Prozent der japanischen Erwachsenen eine tolerante Haltung gegenüber körperlicher Bestrafung hat, auch wenn die Mehrheit angab, diese nur als letzte Möglichkeit anzuwenden. 2) 3) 17) 18) 19) 20)

Baseball
In der japanischen Sportkultur steht Leistung schon früh im Vordergrund. | Bild: © Gin_Chilla [CC BY-ND 2.0] – Flickr
Tatsächlich spielt exzessive Sportausübung schon in den japanischen Junior High Schools und High Schools eine bedeutende Rolle. Aktivitäten in schulischen Sportclubs, auch bukatsu genannt, nehmen einen Großteil der Freizeit der Schüler ein. Schon vor Schulbeginn, nach Schulschluss, an den Wochenenden und teilweise auch während der Ferien, nehmen die Kinder und Jugendlichen am Training wie auch an Wettbewerben teil. Übertrieben lange und intensive Trainingszeiten, ein überzogener Hang zur Perfektion und Machtstrukturen innerhalb des Teams prägen die Atmosphäre innerhalb der Schulclubs. Denn auch hier strebt man den Sieg an, um an nationalen Wettbewerben teilnehmen zu können. Der Ehrgeiz solcher wettbewerbs- und gewinnorientierten Schulsportclubs kann die Kinder und Jugendlichen einem immensen Druck unterstellen. Während an den meisten Schulen dennoch die akademische Bildung im Vordergrund steht, gibt es auch Schulen, die sich vor allem auf die sportlichen Erfolge der Schüler konzentrieren. Besonders begabte Sportler werden gepusht, um zu Eliteathleten aufzusteigen und werden, sobald sie es geschafft haben, als nationale Helden gefeiert. Für Medaillen und Siegestrophäen wird dabei alles in Kauf genommen. Der Druck hört hier nicht auf, denn der nationale Erfolg soll auf den internationalen Erfolg gesteigert werden. Berichte von Elitesportlern und Olympiateilnehmern im Kindes- und Jugendalter belegen diese Haltung. Ist aus solchen Gründen die allgemeine Bildung auf der Strecke geblieben, haben es die Betroffenen nach dem Aus ihrer Sportkarriere oft schwer. 21) 22) 23) 24)

Täter bleiben in den meisten Fällen unbestraft

Es fehlt weiterhin an einem effektiven und zentralen Überwachungssystem, bei dem Fälle von Gewaltanwendung im Sport gemeldet werden können. Eine Strafverfolgung der Täter erfolgt meistens nicht, obwohl körperliche Bestrafung in Bildungseinrichtungen gesetzlich verboten ist. In den wenigen Fällen, in denen derartige Straftaten aufgedeckt und die Täter verurteilt wurden, kam es laut Human Rights Watch zu frühzeitigen Entlassungen aus der Haft. Nicht selten kehrten die Täter in ihre vorherige Position als Trainer oder Betreuer zurück. 2) 3)

Die Olympischen Sommerspiele, welche nun 2021 statt 2020 in Tokio stattfinden werden, bieten der japanischen Regierung die Möglichkeit, effektive Maßnahmen zum Schutz der Kindersportler und jugendlichen Athleten durchzusetzen. Ihre Verantwortung ist es, der japanischen Gesellschaft deutlich zu machen, dass die Gesundheit und das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen von größerer Wichtigkeit sind als der Sieg. 2) 3)

  1. Unicef: Protecting Children From Violence In Sport; zuletzt aufgerufen am 23.07.2020
  2. Human Rights Watch: Japan; Abuse in Pursuit of Olympic Medals; Pressemitteilung vom 20.07.2020
  3. Human Rights Watch: “I Was Hit So Many Times I Can’t Count“ Abuse of Child Athletes in Japan; zuletzt aufgerufen am 23.07.2020
  4. The Guardian: Athletes as young as 12 say they use performance-enhancing drugs; Artikel vom 09.07.2014
  5. The Guardian: Russian child athletes are doping at school, says sports minister; Artikel vom 03.02.2015
  6. Time: China’s Disposable Athletes; Artikel vom 17.07.2007
  7. The Japan Times: Veteran athletes, coaches admant that corporal punishment has no place in sports; Artikel vom 20.01.2013
  8. The Guardian: South Korea unveils biggest ever investigation into abuse in sport; Artikel vom 23.01.2019
  9. The New York Times: China Presses Injured Athletes in Quest for Gold; Artikel vom 20.06.2008
  10. The New York Times: In China’s Medal Factory, Winners Cannot Quit; Artikel vom 21.06.2008
  11. Der Stern: Siegen um jeden Preis; Artikel vom 05.08.2008
  12. Die Welt: Chinas Sportjugend trainiert sich kaputt; Artikel vom 05.08.2008
  13. Bundeszentrale für politische Bildung: China trainiert für Olympia; Das Sportsystem im Reich der Mitte; Artikel vom 06.08.2008
  14. Die Zeit: Kein Kinderspiel mehr; Artikel vom 30.05.2016
  15. Human Rights Watch: Japan; Abuse in Pursuit of Olympic Medals; Pressemitteilung vom 20.07.2020
  16. Human Rights Watch: “I Was Hit So Many Times I Can’t Count“ Abuse of Child Athletes in Japan; zuletzt aufgerufen am 23.07.2020
  17. The Guardian: Human Rights Watch criticises Japan after report reveals abuse of athletes; Artikel vom 20.07.20
  18. The Japan Times: Japan’s Cabinet OKs amendment that bans corporal punishment after spate of tragic cases; Artikel vom 19.03.2019
  19. The Japan Times: Majority of public tolerant of physical discipline for kids: Save the Children Japan; Artikel vom 16.02.2018
  20. The Japan Times: Beating kids to create ‚fighting spirit‘ in sport doesn’t translate; Artikel vom 19.02.2013
  21. The Japan Times: All-consuming school clubs worry foreign parents; Artikel vom 22.06.2014
  22. The Japan Times: The dark side of the Koshien dream; Artikel vom 04.08.2014
  23. The Japan Times: JOC grooms young athletes for international success at Elite Academy; Artikel vom 13.06.2014
  24. The Japan Times: Japan Rising Star Project aims to maximize nation’s young talent; Artikel vom 06.09.2017



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